Ich kann die Ergebnisse der erwähnten Studie aus meiner täglichen Erfahrung nur bestätigen – Migräne ist weiterhin eine unterdiagnostizierte und untertherapierte Erkrankung. Die Hintergründe sind dabei vielfältig. Ein Aspekt ist sicher, dass Migräne weiterhin nicht ernstgenommen wird. Tatsächlich handelt es sich aber sich um eine ernsthafte Erkrankung, die das Leben sehr stark einschränkt. Ein anderer Grund liegt darin, dass Betroffene zu selten ärztliche und dann ggfs. auch fachärztliche Hilfe in Anspruch nehmen. Wir wissen nicht genau, warum das so ist. Tatsächlich geht es oft zunächst darum, die Akuttherapie zu optimieren – es fällt auf, dass Triptane als Goldstandard immer noch zu selten verordnet werden. Noch ausgeprägter gilt dies für die Möglichkeiten sowohl der nichtmedikamentösen als auch der medikamentösen Vorbeugung. Hier verfügen wir über ein umfangreicheres Angebot als noch vor kurzer Zeit.
Weshalb ist eine Migräneprophylaxe für Betroffene so entscheidend?
Eine medikamentöse Migräneprophylaxe sollte bei denjenigen zum Einsatz kommen, die eine hohe Migränebelastung haben, also der Alltag stark von der Migräne bestimmt wird. Dies lässt sich nur individuell und nicht nur über die pure Zahl der Migränetage pro Monat erfassen, sondern sollte auch Intensität der Schmerzen und der Begleitsymptome, überhaupt die Beeinträchtigung im Alltag berücksichtigen. Ebenso gilt: Wenn die Einnahmehäufigkeit der Akutmedikamente, also von Schmerzmitteln und Triptanen, an eine gewisse Grenze gelangt, muss man ebenfalls sehr aufmerksam werden, denn deren Überschreiten ist mit dem Risiko einer Vermehrung der Kopfschmerzen verbunden; wir sprechen dann von Kopfschmerzen bei Medikamentenübergebrauch. Eine Vorbeugung der Migräne, also eine Migräneprophylaxe, kann zu einer deutlich besseren Lebensqualität führen.
Welche Vorteile weist die Migränespritze im Vergleich zu anderen Prophylaxemaßnahmen Ihrer Meinung nach auf?
Zunächst muss gesagt werden, dass die bislang zur Migränevorbeugung verfügbaren Medikamente ja durchaus bewährt sind und es auch bleiben. Allerdings heißt das nicht, dass wir nicht schon lange Verbesserungspotenzial gesehen hätten! Es gab schon immer einige Aspekte, die den Umgang mit diesen vorbeugenden Therapien nicht ganz einfach gestaltet haben. So musste den Betroffenen immer erst vermittelt werden, warum nun ein Epilepsiemittel, ein Antidepressivum oder ein Betablocker eingesetzt werden sollte, und häufig ist die Behandlung dann an Nebenwirkungen gescheitert. Bei der „Migränespritze“ handelt es sich dagegen um die erste speziell für die Migräne entwickelte Therapie, und zwar um sogenannte monoklonale Antikörper, die einen bestimmten, im Nervensystem weit verbreiteten Überträgerstoff (das calcitonin gene-related peptide oder kurz CGRP) oder dessen Rezeptor binden. Die Antikörper verhindern auf diese Weise die Schmerzweitergabe durch den Überträgerstoff CGRP an das Gehirn.
Kann ich die Migränespritze nur bei einer chronischen Migräne anwenden und welche Nebenwirkungen sind zu erwarten?
Die Wirksamkeit ist für die episodische und die chronische Migräne sehr gut dokumentiert, auch für „schwierige“ Situationen, wenn also schon verschiedene andere Behandlungsversuche zuvor gescheitert waren. Darüber hinaus zeigt die Antikörpertherapie ein sehr gutes Verträglichkeitsprofil. Die überschaubaren Nebenwirkungen führen auch zu weniger Abbrüchen: Verstopfungen oder ein Juckreiz an der Einstichstelle lassen sich gut behandeln. Ein weiterer Aspekt ist sicherlich auch, dass Betroffene die Möglichkeit haben, die Migränespritze selbst anzuwenden. Natürlich bedarf es vorab einer Einweisung, doch dann lässt sich der Autoinjektionspen – der aussieht wie ein dicker Kugelschreiber – unkompliziert zu Hause anwenden: Auf dem Po, dem Oberschenkel oder dem Oberarm angesetzt, reicht ein Knopfdruck, um die Behandlung durchzuführen. Darüber hinaus ist eine Anwendung pro Monat ausreichend. Patienten können also auf die regelmäßige Einnahme von Tabletten verzichten. Für Betroffene, die so schon in ihrem Alltag viele terminliche Verpflichtungen haben, kann dieser Umstand eine Erleichterung darstellen.
Warum ist gerade eine aktive Mitarbeit des Patienten so wichtig, um gegen die Migräne erfolgreich vorgehen zu können?
Jede Migräne ist individuell. Dementsprechend ist es wichtig, stets die jeweilige Gesamtsituation des Betroffenen im Blick haben. Nur so können wir gemeinsam ein Gesamtkonzept für die Behandlung entwerfen. Hilfreich ist es, dass Betroffene kontinuierlich ein sogenanntes Migränetagebuch führen. Damit behält man die Zahl der Migräne- und Kopfschmerztage, aber auch Intensität, Beeinträchtigung im Alltag und Häufigkeit der Medikamenteneinnahme im Blick und kann möglicherweise auslösende Faktoren (Trigger) ausfindig machen.
Die aktuelle Situation bedeutet für uns alle eine Lebensumstellung und Stress. Dieser gilt allgemeinhin als Trigger für Migräneattacken. Welche Tipps können Sie Migränikern an die Hand geben, die jetzt vermehrt an quälenden Migräneattacken leiden?
Die gegenwärtige Situation ist zweifellos für uns alle eine Herausforderung. Für Migränebetroffene kommt hinzu, dass Wechsel in der Tagesroutine und möglicherweise erhöhte Stresseinwirkung durch die Veränderungen des Alltags Migräneattacken provozieren können. Diesbezüglich spricht nichts gegen die weitere Einnahme von Triptanen oder auch anderen Schmerzmedikamenten. Dabei gilt weiterhin, dass Migräneschmerzen möglichst frühzeitig behandelt werden sollten. Auch eine medikamentöse Prophylaxe kann unverändert beibehalten werden. Ansonsten rate ich dazu, auf das Einhalten von Pausen zu achten, erlernte Entspannungstechniken konsequent einzusetzen, Ausdauersport beizubehalten. Im Falle einer gravierenden Verschlimmerung wird Ihnen Ihr behandelnder Arzt sicherlich zur Seite stehen.
Dr. Borries Kukowski, niedergelassener Neurologe und Psychiater aus Göttingen