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Gesund mit Diehm

Wie ungesund ist Pendeln?

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Kaum ein Angestellter hat sich die Frage noch nicht gestellt. Wenn ein neues Jobangebot oder die Versetzung an einen anderen Standort rufen, wird fast zwangsläufig die Frage aufgeworfen: Umziehen oder Pendeln? Wie das Thema mit der Familie handhaben? In einer Zeit, in der viele Arbeitgeber unbegrenzte Mobilität von ihrem Personal fordern, ist das eine essenzielle Frage. Auch die aktuelle Corona-Krise wird daran nichts ändern. Informationen rund um den menschlichen Körper und die Gesundheit – erklärt von Prof. Dr. Curt Diehm.
Jeder vierte Arbeitnehmer in Deutschland pendelt über eine Stunde täglich zur Arbeit. Zwei Drittel der Pendler fahren mit dem eigenen Auto. Studien haben gezeigt, dass Akademiker die weitesten Pendeldistanzen zurücklegen. Im Management fliegen die Führungskräfte oft sogar zur Arbeit ein. Beschäftigte im Luftverkehr wie Piloten und Stewardessen, das ist kein Wunder, nehmen den weitesten Weg zwischen Wohnsitz und Arbeit in Kauf.

Pendeln ist dabei zumeist kein kurzfristiges Phänomen. Viele Berufstätige pendeln ihr ganzes Leben lang. Pendelwege und -zeiten in Deutschland sind im internationalen Vergleich im Übrigen relativ gering. Die Entscheidung, wann ein Umzug und wann eine Werkswohnung Sinn macht, wird von viele Faktoren beeinflusst. Die familiäre Situation mit Kindern und der Berufstätigkeit des Partners, die finanzielle Mehrbelastung, vor allem aber die Auswirkungen auf die Karriere spielen eine Rolle. Das ist alles recht komplex.

Pendeln zur Arbeit - Die gesundheitlichen Aspekte

Ich möchte an dieser Stelle lediglich gesundheitliche Aspekte beleuchten. Ist das Pendeln schädlich? Zahlen belegen, dass Pendeln per se kein Drama für Körper und Kopf sein muss. Eine Studie der Technikerkrankenkasse (TK Gesundheitsreport) hat herausgefunden, dass Pendler weniger häufig krankgeschrieben werden. Sie haben einen halben Tag weniger Fehlzeiten als Kollegen mit kürzeren Arbeitswegen. Und es lassen sich sogar einige positive Aspekte finden. Pendler können die Zeit zum Lesen, Musik hören, zur Weiterbildung mit Hörbüchern, Podcasts und Sprachkursen nutzen. Auch Telefonate lassen sich problemlos im Auto erledigen. Bei flexiblen Arbeitszeiten kann man die Rush-Hours vermeiden, Fahr- und Pendlergemeinschaften haben einen sozialen Aspekt. Wer Auto fährt, kann das letzte Stück zum Arbeitsplatz zu Fuß gehen. Die flexiblere Gestaltung der Arbeitswelt ermöglicht vielleicht auch ein oder zwei Homeoffice Tage pro Woche.

Ist Pendeln aus Gesundheitssicht also kein Problem? Ganz so einfach ist es natürlich nicht. Der erwähnte TK Gesundheitsreport macht auch deutlich, dass Pendeln akute und chronische Stressreaktionen auslösen kann. Die Sporthochschule Köln hat ein Verfahren zur Messung von Herzfrequenz-Variationen entwickelt, mit der diese Stressreaktion bei Pendlern gut zu dokumentieren ist. Bei ihnen treten häufiger psychische Erkrankungen wie depressive Episoden und Angststörungen auf als bei den Kollegen, die nicht pendeln. Dieses Problem hat sich vor allem bei Frauen gezeigt. Die Stressreaktion ist bei den oft chaotischen Verhältnissen auf Straße und Schiene leicht erklärbar. Staus, Umleitungen, der Ausfall von Bus und Bahn erhöhen den Druck auf Arbeitnehmer erheblich. Niemand kommt gerne ständig zu spät. Der akute und chronische Stress bei Pendlern führt deshalb auch häufig zu Bluthochdruck.

Fazit der Studie zum Pendeln: Das Pendeln macht nicht kränker, aber es erzeugt mehr Stress. Pendler werden auch häufiger geschieden. Pendler sind erschöpfter und reizbarer. Das kann zu einer Abnahme der Leistungsfähigkeit führen sowie zu Störungen im Privatleben. Selbst die Zähne von Pendlern sind schlechter.

Und es gibt noch weitere Effekte, die ich als Arzt nicht übersehen kann. Pendlern fehlt oft ein Teil des Schlafes. Sie müssen die besagte Stunde früher aufstehen, um rechtzeitig zur Arbeit zu kommen, sind deshalb tagsüber oft müder, was bei vielen Menschen auch zu einem höheren Körpergewicht führt. Tagesmüdigkeit und Konzentrationsschwierigkeiten steigern bei Autopendlern die Gefahr von Verkehrsunfällen mit Verletzungen.

In öffentlichen Verkehrsmitteln kommt das Problem von Allergien durch Milben in den Polstern hinzu. Derzeit meiden Menschen die öffentlichen Verkehrsmittel, um sich nicht mit dem Coronavirus anzustecken, Wer mit öffentlichen Verkehrsmitteln fährt, hat häufiger Infekte beziehungsweise Erkältungen.

Das vielleicht größte Problem sehe ich in dem zusätzlichen Sitzen. 2x1 Stunde und mehr im Auto bedeutet eben auch zwei Stunden plus in sitzender Haltung. Für mich ist das Sitzen das neue Rauchen. Extrem gesundheitsschädlich! Durch das unterwegs sein bleibt den Betroffenen entsprechend weniger Zeit für körperliche Aktivitäten. Wer abends eine Stunde länger für das Pendeln nach Hause braucht als andere, wird sich schwerer tun, sich sportlich zu betätigen.

Und auch beim Essen lauert ein mögliches Risiko. Sofern die Mahlzeit vermehrt auf dem Rastplatz oder im Bahnhof stattfindet, ersetzt Gemüse und Salat gerne mal mit Currywurst und Pommes.

Für einen Teil jener, die auf das Pendeln nicht verzichten können, habe ich einen Rat: Ich kenne Leute, die fahren inzwischen zweimal täglich jeweils eine Stunde mit dem Fahrrad zur Arbeit und zurück. Das ist medizinisch perfekt. Bei den hohen Mieten in den Ballungszentren wäre es sicherlich eine Überlegung wert, mit Familie und Kindern ins Grüne zu ziehen und den Arbeitsweg dann mit dem Fahrrad zurückzulegen, gegebenenfalls gepowert mit einem kleinen E-Motor. Viele größere Städte bauen ihre Radinfrastruktur nach dem Vorbild von Kopenhagen aus, um den Umstieg auch für Fahrrad-Pendler attraktiver zu machen. Umweltbewusst ist diese Form der Fortbewegung zudem und gerade in Corona-Zeiten besonders beliebt.

Zur Person

Prof. Dr. med. Curt Diehm zählt zu den führenden Medizinern im Südwesten Deutschlands, er ist Autor zahlreicher Fach- und Patientenbücher und langjähriger Präsident der Deutschen Gesellschaft für Gefäßmedizin. Seit Mitte 2014 leitet er als Ärztlicher Direktor die renommierte Max Grundig Klinik in Bühl. Alle Beiträge dieser Serie zum Nachlesen unter www.max-grundig-klinik.de.