Einfach alles merken – Interview mit Ulrich Bien istockphoto.com/mattjeacock

Einfach alles merken – Interview mit Ulrich Bien

Wir alle können uns zu kognitiven Leistungen aufschwingen, die wir nicht für möglich halten. Davon ist Ulrich Bien, Autor des Buches „Einfach. Alles. Merken.“ überzeugt. Mit den richtigen Merk-Techniken ist so vieles möglich. Man muss nur wissen wie es geht.

GesünderNet: In Ihren Seminaren zu Memotechniken sagen Sie, dass unser Gehirn leistungsfähiger ist als ein Computer. Wie meinen Sie das?

Ulrich Bien: Das menschliche Gehirn ist eines der faszinierendsten Dinge überhaupt. Gleichzeitig hat die Wissenschaft nur etwa fünf Prozent davon untersucht und mehr oder weniger verstanden.

Wir wissen wahrscheinlich mehr über Flüge in den Weltraum als über unseren Kopf. Das Gedächtnis ist zu viel mehr fähig, als die meisten Menschen sich zutrauen. Es speichert jeden Tag nicht nur Unmengen von Informationen (ohne, dass wir es bewusst wahrnehmen), sondern es kann diese obendrein verarbeiten und bewerten, logische Schlüsse ziehen und so weiter.

Der Abstand zwischen Vollidiot und Nobelpreisträger ist gar nicht so groß, denn unser Gehirn ist zum Beispiel für die Steuerung des gesamten Körpers verantwortlich – und das ist schon eine gigantische Aufgabe. Und wir glauben, dass ein Computer mehr leistet, als der eigene Kopf, weil er ein paar Zahlen schneller zusammenzählen kann. Stellen Sie sich vor, eine Maschine zu bauen, die Spiegeleier braten kann, Geld einstecken, in den Supermarkt gehen, Eier kaufen und bezahlen – schon das ist kaum zu konstruieren. Die Technik wird die Leistungsfähigkeit unseres Kopfes niemals übertreffen!

GesünderNet: Warum tun wir uns dann bei Faktenwissen so schwer?

Ulrich Bien: Das Gehirn bevorzugt eigentlich komplexe Informationen mit Haken und Ösen. Auch wenn das eigenartig klingt: Je mehr wir lernen, desto besser können wir merken. Zusammenhänge, Hintergrundinformationen und Details – also die kleinen, aber interessanten Geschichten nebenbei sind es, die unser Kopf am besten behalten kann.

Auf der anderen Seite neigen wir dazu, Informationen immer abstrakter zu machen: Telefon- und Bestellnummern, Abkürzungen und Codes, unter denen sich das Gehirn auf den ersten Blick gar nichts vorstellen kann. Eine „2“ löst im Kopf kaum eine Reaktion aus. Die Vorstellung von Zwillingen oder zwei Nasenlöchern regt dagegen über zwanzig Regionen im Gehirn an!

Noch schlimmer wird es für den Kopf, wenn diese Informationen in keinem Zusammenhang mit einer Information stehen. Das ist Faktenwissen pur: Die Telefonnummer eines Freundes steht in keiner (logischen) Beziehung zu ihm. Wir können uns die Nummer durch Nachdenken nicht erschließen, was sie unfassbar für den Kopf macht. So genannte Merktechniken tun in den meisten Fällen nichts anderes, als abstrakte Informationen und Fakten für das Gehirn greifbar zu machen – so fällt uns das Merken leichter.

GesünderNet: Können Sie uns das anhand eines Beispiels eine Merk-Technik näher erläutern?

Ulrich Bien: Wenn ich Sie beispielsweise auffordere, die Position der Buchstaben im Alphabet auswendig zu lernen, dann bewältigen viele diese Aufgabe durch Hinsetzen, Pauken und Büffeln. Eigentlich brauchen Sie sich aber nur die Buchstabenfolge EJOTY einzuprägen. Damit haben Sie die sofort die Buchstaben auf den Positionen 5, 10, 15, 20 und 25. Zu jedem weiteren Buchstaben sind es damit maximal zwei Schritte vor oder zurück. Ohne zu lernen haben Sie sich viel Frust und Mühe erspart.

GesünderNet: Würden Sie sagen, dass alle Menschen dieselbe Grundfähigkeit besitzen sich Dinge zu merken?

Ulrich Bien: Alle Gehirne sind gleich! Und alle Gehirne sind nahezu gleich leistungsfähig! Der Unterschied liegt in den meisten Fällen in unserer Einstellung zu dem, was wir zwischen den Ohren mit uns herumtragen. Und gerade das lässt sich leider nicht so leicht ausbügeln. Wir sind geprägt durch viele Jahre von Erziehung und Erfahrung. Dazu gibt es ein legendäres und sehr wahres Filmzitat von Winston Groom: „Dumm ist der, der Dummes tut!“ Umdenken geschieht nicht in fünf Minuten, aber wer die Erfahrung macht, was mit seinem Kopf alles geht, kommt aus dem Staunen meistens nicht mehr heraus.

Deswegen setzen wir uns auch stark für Kinder ein, dass sie ihre Kreativität und ihre Art, anders zu denken, behalten. Zeichnen Sie spontan ein Haus! Und dann schauen Sie sich an, was Sie da auf das Papier gebracht haben. Ich bin sicher, kein Haus auf der Welt besteht aus einem Quadrat mit aufgesetztem Rechteck.

Punkt, Punkt, Komma, Strich – fertig ist alles, nur kein Gesicht! Wir trainieren unseren Nachwuchs darauf, leblose und abstrakte Dinge zu malen. Meistens wird die Fähigkeit, das zu malen, was man sieht, später wieder mühevoll trainiert. Eigentlich eine vollkommen bizarre Vorgehensweise.

GesünderNet: Sie leiten auch Arbeitsgruppen, bei denen Sie anderen die Memotechniken beibringen und anwenden helfen. Welches war Ihr erstaunlichster Schüler? Was war der bemerkenswerteste Fortschritt?

Ulrich Bien: Einer der ältesten Teilnehmer in meinen Trainings war weit über 70 Jahre alt. Und er konnte sich am Ende eines Tagestrainings mit über 250 Ziffern mehr Stellen einer Zahl merken als alle anderen in der Gruppe.

GesünderNet: Verwenden Sie selbst die Memotechniken im Alltag? Funktionieren sie immer, oder ist es situationsabhängig, ob Sie sich Dinge besser oder schlechter merken können, z.B. von der Tagesform, in Stresssituationen, lauter Umgebung.

Ulrich Bien: Meine Frau drückt mir manchmal eine Einkaufsliste in die Hand und ich gehe mit dem Zettel in den Supermarkt, ohne mir die Dinge einzuprägen. Auf der anderen Seite kann ich mir alles merken, was ich im Kopf behalten will. Wichtiger noch: Ich kann meinen Kopf fordern, mich stundenlang mit komplizierten Dingen beschäftigen und kreative Ideen in Hülle und Fülle produzieren. Kurz: Mit ganz viel Lust und Laune denken! Das ist ein unglaublicher Luxus.

Ich vergleiche Merktechniken gerne mit Fahrradfahren: Sie können diese nicht mehr verlernen, wenn Sie einmal begriffen haben, wie Anders-Denken funktioniert. Und natürlich hat jeder Kopf Stärken und Schwächen. Etwas zu vergessen ist etwas ganz normales – obwohl das häufig übertrieben als Problem gesehen wird. Wenn Sie ohne Hosen im Büro stehen, dann sollten Sie sich Gedanken darüber machen, ob mit Ihrem Kopf etwas nicht stimmt.

Auf der anderen Seite ist das Gehirn zum Knackpunkt des Älterwerdens geworden: Für fast jeden Teil des Körpers gibt es heute Ersatzteile – außer für das Gehirn. Das einzig bekannte Mittel gegen viele Formen der Altersdemenz ist, seinen Kopf aktiv zu nutzen und zu fordern – und zwar von Anfang an. Meine Empfehlung an der Stelle: Lernen Sie bis in hohe Alter neue Dinge! Das ist interessanter als Gehirnjogging, das meistens keinen praktischen Nutzen hat.

GesünderNet: Können Sie uns hier ein Beispiel geben, wie man sich zum Beispiel eine Telefonnummer merken könnte? (Nehmen wir an, es ist eine Handynummer, die uns durchgesagt wird: 01772448511

Ulrich Bien: Zahlen sind Faktenwissen pur und unglaublich unverträglich für das Gehirn. Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, diese für den Kopf verdaulicher zu machen. Grundlage aller Merktechniken ist dabei das Verwandeln in Bilder, denn die kann sich ein Gehirn problemlos und massenhaft merken.

Bei Handynummern empfehle ich, zunächst die Vorwahl immer in ein Bild zu verwandeln. Damit sparen Sie das Merken der einzelnen Ziffern (wenn ein Freund von Ihnen in Berlin wohnt, müssen Sie sich ja auch nicht merken, dass die Vorwahl 030 lautet). Für mich ist beispielsweise die 0172 immer ein Bild, das Luxus enthält. Die 0177er-Nummern spielen auf dem Bauernhof. Damit wäre der Grundstein für das Bild gelegt.

Dann ist Ihre Phantasie gefragt: Welchen Bildern sehen die Ziffern der Telefonnummer ähnlich? Und was für eine Geschichte lässt sich daraus zusammenbauen, die auf einem Bauernhof spielt? Wie wäre es mit einer Gans, die über zwei Hausdächer hüpft, sich eine Kette schnappt, an der ein Haken befestigt ist und sich damit erst den Bauern und dann die Bäuerin angelt! Und? Sehen Sie die Zahl? Die 2 sieht aus wie eine sitzende Ente von der Seite, 4 und 4 sind die Hausdächer und so weiter. Wichtig ist, dass Sie sich Bilder ausdenken, mit denen Ihr Kopf etwas anfangen kann. Sollte Ihnen mein Vorschlag nicht zusagen, dann denken Sie sich eine eigene Geschichte aus. Und: Richtig vorstellen! Wenn Sie lebende, verrückte und ausgefallene Bilder im Kopf haben, werden Sie die Zahl im Idealfall niemals mehr vergessen.

Auch wenn das auf der ersten Blick etwas verrückt und umständlich aussieht: Ihr Kopf wird die kleine Geschichte besser behalten als die nackte Ziffernfolge!

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Und wer mehr über Ulrich Bien und die beschriebenen Merktechniken erfahren möchte: www.denkreich.com

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Noch mehr Tipps zum Thema besser Merken erhaltet Ihr in Urlich Biens Buch: Einfach. Alles. Merken.

buch

Produktinformation:

Verlag: Humboldt

Erscheinungsjahr: 2011

2., aktualis. Aufl.

Best.Nr. des Verlages: 41482

ISBN-13: 9783869104829

ISBN-10: 3869104821